Geschichte Estlands


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Das jetzige estnische Gebiet wurde erstmals vor spätestens 11.000 Jahren besiedelt, nachdem der weichende Gletscher dies ermöglichte.

Auf dieser Karte für 814 ist „Estland“ in der antiken Bedeutung eingetragen.
Der Deutschordensstaat und das Baltikum Anfang des 15. Jahrhunderts

In Antiken Schriften bezieht sich die Bezeichnung Aisti oder Aesti mehr auf die südlich wohnenden Balten als auf die Esten. Noch der angelsächsische Reisende Wulfstan im 9. Jahrhundert benutzte das Wort in der antiken Bedeutung.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Anfang des 13. Jahrhunderts wurden sie von Dänemark aus missioniert. Dänemark und der Schwertbrüderorden bzw. Deutsche Orden stritten um die Herrschaft über Estland. 1356 wurden die Esten vom Deutschen Orden unterworfen. Seitdem lebten in Estland viele Deutsche, die sich bald als eigene ethnische Gruppe verstanden und als Deutschbalten bezeichneten. Zudem lebte seit dem 13. Jahrhundert in Estland auch eine schwedische Minderheit, die Estlandschweden.

Das Mittelalter war von der Zugehörigkeit der estnischen Städte zur Hanse und deren Kontakten nach Skandinavien geprägt. Nach dem Auseinanderbrechen des Ordensstaates unter den Angriffen Iwans IV. „des Schrecklichen“ (Livländischer Krieg) unterstellte sich Estland 1561 der schwedischen Herrschaft. Der Süden Estlands um Dorpat bildete zusammen mit der Nordosthälfte des heutigen Lettland das Herzogtum (vorher Ordensland Livland (estnisch „Liivimaa“, lettisch „Vidzeme“, polnisch „Inflanty“). Es wurde 1561 polnisches Lehen, kam aber im Vertrag von Altmark 1629 ebenfalls zu Schweden. Livland wurde (als durch die Schweden erobertes Land) anders behandelt als das eigentliche Estland, das sich ja freiwillig unterworfen hatte. Vor allem war die ständische Vertretung stark eingeschränkt. Die einheimischen Bauern genossen unter der schwedischen Herrschaft weitaus größere Freiheiten als unter der nachfolgenden russischen.

Im russischen Reich

1710 (endgültig 1721 mit dem Frieden von Nystad) wurde Estland unter Peter dem Großen russisch. Das Gebiet des heutigen Estland gehörte danach zu den Ostseegouvernements des Russischen Reiches (der Nordteil als Gouvernement Estland, der Südteil gehörte zum Gouvernement Livland und wurde aus Riga verwaltet). 1816 (Nordestland) bzw. 1819 (Südestland) wurde die Aufhebung der Leibeigenschaft beschlossen. Die Zaren nach Alexander III (1881–1894) verfolgten eine rigorose Russifizierungspolitik und schränkten die Souveränität der ansässigen, großenteils baltendeutschen Oberschicht immer weiter ein. Gleichzeitig destabilisierte das erwachende nationale und wirtschaftliche Interesse sowie Arbeiter- und Bauernbewegungen der Esten und Letten die Gesellschaftsordnung.

Eine zentrale Rolle spielte bei dieser Entwicklung zur eigenen kulturellen und politischen Identität die Universität Tartu (Dorpat), auf der seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die studierenden Esten sich bewusst nicht mehr über die Mitgliedschaft in den Corporationen assimilieren wollten, sondern vorwiegend im Verein Estnischer Hochschüler (Eesti Üliõpilaste Selts) und weiteren Corporationen eine eigene Identität förderten.

Unabhängigkeit

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Unterschriften unter den Friedensvertrag von Tartu

Nach der russischen Februarrevolution von 1917 bildete sich ein Estnischer Nationalrat. Der proklamierte am 24. Februar 1918, einen Tag vor dem Einmarsch der Armee des deutschen Kaiserreichs, die Republik Estland. Vorerst war dies ein Beschluss auf dem Papier. Die eigentliche Unabhängigkeit wurde im Freiheitskrieg (1918–1920) erkämpft. Am 2. Februar 1920 erkannte dann die Sowjetunion die Unabhängigkeit Estlands im Frieden von Dorpat „auf alle Zeiten“ an.

Das damals wie Lettland über eine tolerante Minderheitsgesetzgebung verfügende Land erlebte eine wirtschaftliche wie kulturelle Blüte. 1934 kam es im Gefolge der Weltwirtschaftskrise zu einer profaschistischen Revolution und durch einem Staatsstreich brachte sich Konstantin Päts von der konservativen Agrarpartei an die Macht. Die unabhängige Republik Estland schafft es, mit allen bedeutenden Staaten offizielle Beziehungen anzuknüpfen und ihr Vorhandensein im Bewusstsein der Europäer zu festigen. Die Selbständigkeit wurde infolge des zwischen der Sowjetunion und Deutschland im August 1939 geschlossenen Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt ab Juni 1940 Zug um Zug beendet.

Sowjetische und deutsche Okkupation

Estland geriet ins Visier der zwei Aggressoren, Sowjetunion und Nazi-Deutschland, die im August 1939 über baltische Staaten und Einflussbereiche in deren Territorien verhandelten (Hitler-Stalin-Pakt). Im Oktober 1939 wurden die Deutschbalten (Adel, Gutsbesitzer, Kaufleute, viele Akademiker) zwangsweise in den „Warthegau“ umgesiedelt. In den Jahren 1940 bis 1944 verließen 70.000 bis 75.000 Esten ihr Land in westlicher Richtung auf der Flucht vor allem vor den sowjetischen aber auch der deutschen Okkupation.[1]

Am 16. Juni 1940 stellte die sowjetische Regierung Estland ein Ultimatum und besetzte es anschließend. Am 16. August des Jahres wurde unter sowjetischer Besatzung die Estnische SSR proklamiert und durch deren formalen Beitritt Estland definitiv von der Sowjetunion annektiert. Diese erste Phase der sowjetische Herrschaft von Juni 1940 bis Juni 1941 war gekennzeichnet durch Terror und Massendeportationen gegen die estnische Bevölkerung. Ihren Höhepunkt erreichte die stalinistische Vernichtungspolitik in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1941, als in allen drei baltischen Ländern etwa ein Prozent der Bevölkerung verhaftet und deportiert wurde (insgesamt über 47.000, in Estland ca. 10.000 Menschen). Etwa 60 % von ihnen starben in den sowjetischen Lagern (Gulag).

Nach dem Angriff des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde Estland im August 1941 von deutschen Truppen besetzt. Seit dem 5. Dezember 1941 stand das Land als Generalbezirk Estland im Rahmen des Reichskommissariats Ostland unter deutscher Zivilverwaltung und litt unter der nationalsozialistisch orientierten Politik. Wehrfähige Esten wurden zur deutschen Wehrmacht eingezogen, wovor etwa 5.000 junge Männer nach Finnland flohen. Die Waffen-SS stellte eine estnische Freiwilligen-Division auf. In der ersten Oktoberhälfte 1944 zogen sich die deutschen Truppen wieder aus Estland zurück, um einer Einkreisung zuvorzukommen.

Estnische SSR

 
Flagge der Estnischen SSR
 
Grenzveränderungen zugunsten Russlands in der Zeit der sowjetischen Okkupation

Im Herbst 1944 übernahm wieder die Rote Armee das Land. Ein großer Teil der schwedischsprachigen Minderheit (vor allem auf den Inseln) ging ins Exil und wurde von Schweden aufgenommen.

Die Estnische SSR wurde wieder eingerichtet und damit Estland wieder der Sowjetunion eingegliedert, ein Schritt, der vom Westen nicht anerkannt, aber hingenommen wurde. Erneut wurden tausende von Esten nach Sibirien deportiert. Wegen einer massiven Einwanderung überwiegend russischsprachiger Zuwanderer (Russifizierungspolitik) wurden die Esten in den östlichen Regionen zeitweise zu einer Minderheit im eigenen Land.

Während der sowjetischen Besetzung wurde die estnische Ostgrenze zugunsten Russlands verschoben. Estland verlor so die Gebiete um Iwangorod (estn. Jaanilinn) und Petschory (Petseri).

Die Abschottung des Landes gegen westliche Einflüsse gelang der Staatsmacht in der Estnischen SSR aber weniger als in fast allen anderen Sowjetrepubliken, denn jenseits des nur 20 km breiten Finnischen Meerbusens liegt Finnland. Durch die Ähnlichkeit der Sprachen sind finnische Radio- und Fernsehsendungen für Esten problemlos zu verstehen und wurden gerade in der Zeit der sowjetischen Herrschaft von vielen regelmäßig empfangen.

Bevor eine explizit politische Abgrenzung zu Russland möglich war, äußerte sich das estnische Selbstbewusstsein in einer lebhaften Volksliedbewegung, deren große Chorveranstaltungen berühmt waren (s. Singende Revolution, Sängerfest (Baltikum)).

Unabhängigkeitserklärung

Im Jahr 1990 erklärte Estland erneut seine Souveränität, die es 1991 zusammen mit Litauen und Lettland durchsetzen konnte: am 20. August 1991 erklärt der Oberste Rat die Unabhängigkeit des Landes. Um den friedlichen Übergang in die Unabhängigkeit nicht zu gefährden und den Anteil der russischsprachigen Bevölkerung nicht noch weiter zu erhöhen, verzichtete man auf die Rückgabe der von Russland zur Zeit der Okkupation abgetrennten Gebiete.

Anfangs galt Estland politisch und wirtschaftlich als instabil. Im Laufe der 1990er Jahre erlebte die Wirtschaft einen Aufschwung („Baltischer Tiger“).

Am 29. März 2004 wurde Estland Mitglied der NATO. Zum 1. Mai trat Estland der Europäischen Union bei. Außenpolitisch orientiert sich Estland an den skandinavischen Ländern.

Literatur

  1. Estnische Botschaft in Deutschland: Estnische Sprache und Kultur im Ausland
  • Seraina Gilly: Der Nationalstaat im Wandel. Estland im 20. Jahrhundert, (= Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich, Bd. 97) Bern/Berlin [u. a.] 2002. ISBN 3-906769-19-4
  • Gert von Pistohlkors (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas – Baltische Länder. Berlin 1994.
  • Suzanne Champonnois ; François de Labriolle : L'Estonie : des Estes aux Estoniens. Éditions Karthala, collection « Méridiens », Paris, 1997 , ISBN 2-86537-724-5
  • Suzanne Champonnois ; François de Labriolle : Estoniens, Lettons, Lituaniens : histoire et destins. Éditions Armeline, Crozon, 2004 , ISBN 2-910878-26-0
  • Suzanne Champonnois ; François de Labriolle : Dictionnaire historique de l'Estonie. Éditions Armeline, Brest, 2005 ISBN 2-910878-38-4


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