In Widmanns Arche hat vieles Platz: Tiefgründiges ebenso wie Humor


Christoph Wurzel

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Nach den beiden grandiosen Eröffnungskonzerten, in denen Thomas Hengelbrock mit geschickter Programmdramaturgie die klanglichen Möglichkeiten der Elbphilharmonie vorgeführt hatte, stand am Folgetag die Uraufführung eines Werks auf dem Programm, das nach Aussage seines Komponisten Jörg Widmann speziell vom neuen Konzertsaal inspiriert ist: sein abendfüllendes Oratorium Arche, ein Auftragswerk des Philharmonischen Staatsorchesters HamburgDabei versteht er den Titel des Werks symbolisch und doppeldeutig: einmal steht er für das Haus selbst als schützenden Raum für die Kunstform Musik inmitten gesellschaftlich unruhiger Zeiten, zum anderen handelt das Werk thematisch vom Bedürfnis des Menschen nach einem bewahrten, gesicherten, friedvollen Dasein.

Es sind existentielle Fragen, die dieses Werk aufwirft, für das Widmann zahlreiche Texte heterogenster Herkunft als Libretto zusammengestellt hat, geistliche Texte wie auch philosophische, Lyrik und Prosa aus vielen Jahrhunderten. So vielfältig wie die Textwahl sind auch die musikalischen Mittel, mit denen Widmann arbeitet. Radikal neu sind seine klanglichen und formalen Wege nicht; Widmann ist nicht der Komponist hermetischer Klänge, bewegt sich nicht in abgehobenen, intellektuellen Sphären; die geistigen Quellen seines Werks erschließen sich klar. Traditionsbezug wie auch kreativ Innovatives gehen in Widmanns Komposition eine Verbindung ein, die zuerst irritiert. Hart gegeneinander gefügt werden dissonant freitonale Passagen gegen klassische Choralsätze. Sprache und Gesang, Geräusche und Töne sind Mittel, die der Komponist wirkungsvoll einsetzt; stellenweise wird Ernst durch Ironie gebrochen: alles im Sinne der Verfremdung zwecks eines besseren Gewinns an Erkenntnis.

Fünf Teile hat das Werk, das sich am biblischen Ablauf orientiert. Der erste Teil Fiat lux beginnt tonlos; lediglich Wasser- und Windgeräusche versinnbildlichen das Chaos, aus dem Gott dem Schöpfungsbericht zufolge alles erschuf. Diesen Bericht zitieren alternierend ein Junge und ein Mädchen sprechend anstelle der gesungenen Rezitative des klassischen Oratoriums. Der Chor raunt mehr als dass er singt: „Die Erde war wüst und leer.“ Allmählich konkretisieren sich die Geräusche zu Tönen und „fiat lux“ wird gleichbedeutend mit „Es werde Klang.“

Das Philharmonische Staatsorchester gestaltete diesen Übergang ungemein sensibel und gab dem Klang dieses mystischen Augenblicks aus Harfe und Glasharmonika schillernde Farbigkeit. Gleich aber konterkariert Widmann eventuell entstehendes Pathos wieder, indem der Solobariton nicht etwa vom „ersten Tag” singt, den Gott nun erschaffen hat, sondern einen Gast im Publikum per Handschlag echt norddeutsch mit „Tach“ begrüßt und gleich eine zweite Möglichkeit des Weltbeginns in den Raum stellt: „Am Anfang war das Wort.“ So geht es weiter im ganzen Werk – Dialektik wird zum bestimmenden Prinzip. An den Schluss seines Schöpfungskapitels setzt Widmann dann auch als Fazit über das Wesen des Menschen den Vers von Matthias Claudius: „Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret / Hält nichts und alles wahr“, vertont das ganze Gedicht zwar in der Manier eines Bach’schen Chorals, diese Stelle aber besonders dissonant und sperrig.

Der zweite Teil behandelt die Sintflut, die Widmann als wahre Katatrophenmusik in einer komplexen Konstruktion aus Sprechgesang und Turbae-Chören mit vollem Orchester samt Orgel gestaltet. Kent Nagano gelang es, diesem Aufbäumen von Klängen klare Struktur zu geben. Die zentrale Aussage dieses Teils stellt die für das ganze Werk bestimmende Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm selbst (durch die Strafe der Sintflut) geschaffenen oder mit seiner Duldung entstandenen Leids. Auch hier wieder die nahtlose Fügung von Gegensätzen: Bibeltext und gleichzeitig konträre Philosophie – und dies im Sinne der Aufklärung.

Der dritte Teil, gewidmet der Liebe, war der bunteste und zugleich unterhaltsamste dieses Abends, auch weil die Präsentation eine theatralische Dimension gewann und den beiden Gesangssolisten breite Plattform bot. Von den Rängen herab glänzte Marlis Petersen ungemein virtuos mit langen Passagen improvisierter, jauchzender Vokalisen; Thomas E. Bauer gab einen Text von Klabund genussvoll in der Manier eines Brettlliedes zum Besten. Alle Facetten der Liebe werden berührt, Treue und Untreue. Hans Christian Andersens Gedicht Verratene Liebe vertont Widmann ziemlich sarkastisch als fröhlichen Walzer und der Chor schunkelt dazu; letztlich mündet die Liebe in den Geschlechterkampf mit finalem Eifersuchtsmord.

Die Schuld zieht das Strafgericht nach sich, im vierten Teil Dies irae. Hier hält sich Widmann zwar an den originalen, lateinischen Liturgietext, gestaltet daraus aber eine dramatische Szene, die mit schreienden Chören, scharfen Bläserfanfaren, harten Trommelwirbeln, flammengleichen Flötensequenzen und um Hilfe flehenden Gesangssolisten das jüngste Gericht heraufbeschwört. Unerbittlich schreitet das göttliche Strafgericht voran, aber Widmann erhebt erneut Einspruch und lässt diesem Abschnitt verträglich enden. Im Geiste einer Versöhnungsutopie unterlegt er der Musik aus Beethovens Chorfantasie (im Tonfall einer Vorgängerin seiner Neunten Symphonie) eine Passage aus Schillers Ode an die Freude, die Beethoven nicht verwendet hat, gipfelnd in der Forderung: „Unser Schuldbuch sei vernichtet! Aussöhnt die ganze Welt!“

Widmann mag wohl wissen, dass es nicht so leicht geht mit Vergebung, Versöhnung und Frieden. Er reklamiert aber für die Kunst, für seine Musik einen kathartischen Anspruch. So lässt er am Schluss im fünften Teil die Kinder die Bitte um Frieden formulieren. „Dona nobis pacem“, singt ein Knabensopran, was dem leider ungenannten Solisten eines Knabenchors aus Dortmund in ganz berührender Weise gelang. Und weil dieser Frieden nur eine Hoffnung ist, bleibt der Schlussakkord unaufgelöst.

Zu Recht gab es frenetischen Jubel für dieses beeindruckende Werk.

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